Exposé

Als Richard Haberlandt 1919 in die Ostthüringer Metropole kam, hatten die beiden großen Geraer Künstler, die die zeitgenössische Kunstentwicklung in Deutschland mitbestimmten, Otto Dix (1891-1969) und Kurt Günther (1893-1955) ihre Heimat bereits hinter sich gelassen. Beide trafen in Dresden an der Kunstakademie aufeinander und gehörten zum wesentlichen Kern der Dresdner Dada-Gruppe.
Der verbliebene Künstlerkreis in der Provinz schloss sich im 1919 gegründeten Künstlerbund Ostthüringen (KBO), welcher die künstlerische und wirtschaftliche Förderung Ostthüringer Künstler zum Ziel hatte, zusammen. Es war die größte regionale Künstlervereinigung mit Sitz in der ostthüringer Industriestadt. Ob durch die Tätigkeit des Künstlerbundes das Aquarellblatt einer Berglandschaft von Richard Haberlandt vermittelt wurde, bleibt offen. 1930 wurde es durch die Stadt als Dienstzimmerschmuck erworben. Heute befindet sich das Werk in den Beständen der Kunstsammlung Gera.
Im allgemeinen kulturellen Aufschwung in den 1920 er Jahren kommt dem Geraer Kunstverein eine wichtige Stellung zu. Seit 1913 unter dem Vorsitz Alfred Bogenhardts entfaltet er nach dem Ersten Weltkrieg eine bislang ungeahnte Aktivität und gestaltet das aufblühende Kulturleben in den folgenden Jahrzehnten maßgeblich mit. Höhepunkt seiner Ausstellungstätigkeit waren zwei Expositionen im Jahr 1924. Den Anfang machte der Jenaer Künstler Walter Dexel mit seiner abstrakten Malerei, danach eröffnete die „Sturm“-Ausstellung des Berliner Verlegers und Galeristen Herwarth Walden, die sowohl Ablehnung wie Anerkennung fand. Erstmals wurden avantgardistische Kunsttendenzen in Gera präsentiert. Es war in der bis dahin provinziell-konservativen Kulturszene Geras ein „künstlerisches Ereignis ersten Ranges“.
1924 kehrte Kurt Günther nach Gera zurück und stieg in kurzer Zeit zum Oberhaupt der Geraer Künstlerschaft auf. Kurzzeitig hatte er ab 1927 auch den Vorsitz des Künstlerbundes Thüringen übernommen. Der Freundeskreis des Lokalmatadors Günther war in den 1920 er Jahren recht illuster. Unter anderem gehörten ihm die etablierten Heimatmaler Hermann Paschold (1879-1965) und Paul Neidhardt (1873-1951) an, dazu kam der Dix-Schwager und Spätexpressionist Alexander Wolfgang (1894-1970), der Geologe und Dix-Freund Rudolf Hundt (1894-1970) und Erich Drechsler (1903-1979), der ebenfalls wie Günther die Dresdner Kunstakademie absolvierte und als kubo-futuristischer Symbolist und sozialdemokratischer Pressezeichner 1928 in den Arztberuf wechselte. Sie gründeten 1926 zusammen mit den Architekten Fritz Keller und Walter Buschendorf die spätdadaistische Gemeinschaft „pro-pro-bru“ (produktive-promiente-brummochsen). Sie waren Bohemiens und Bürgerschreck zugleich. Ferner gehörte der Weimarer Maler Alfred Ahner (1890-1973) zum Kern der Osttüringer Künstlergruppe und beschrieb in seinen Tagebuchaufzeichnungen feinsinnig die Geraer Zeit: „in Gera erlebt man in drei Tagen mehr als in zehn Weimarer Jahren“.
Gera war in den 1920 er Jahren ein Ort mit einer vielseitigen lebendigen Kunstszene und einem aufgeschlossenen Auftraggeber- und Mäzenatenkreis. Als wichtiges Industriezentrum in Ostthüringen erlebte die Stadt in der Zwischenkriegsepoche eine sowohl wirtschaftliche als auch kulturelle Blütezeit.