Kurt Günther

Der 1893 in Gera geborene Kurt Günther ist neben Otto Dix der bedeutendste Vertreter des sozialkritischen Realismus und der Neuen Sachlichkeit in Thüringen. Franz Roh, der aus Apolda gebürtige Kenner und Förderer nachexpressionistischer Kunst, platzierte Günther 1928 zwischen die Pole der Neuen Sachlichkeit: „zwischen Dur und Moll, Taghelle und Nächtlichkeit, zwischen Unschuld und Raffinement, Grauen und Bewunderung“. Tatsächlich ist das Werk Günthers aus einer Nähe zum aggressiven Verismus Dixschen Formats in die abgeklärteren Gefilde eines internationalen Neoklassizismus hinübergewachsen, ohne beide Extreme je ganz intendiert und erreicht zu haben. In der Wertschätzung Franz Rohs rangiert Kurt Günther neben (nicht nach) Otto Dix: „Sie stellen beide den einzig wichtigen Beitrag Thüringens zur Malerei des neuen Verismus dar.“

Der Verismus beider ist von unzweifelhafter Qualität, doch von unterschiedlicher Konsequenz und Komplexität: Dix ist besessen von einer Wirklichkeit voller Ambivalenzen und Antinomien, ein naiv-nüchterner Brutalrealist. Ihm gerät ohne Verbissenheit eines der gnadenlosesten Gesellschaftsporträts der Weimarer Republik. Der Gestaltungsantrieb Kurt Günthers hingegen entzündet sich nicht vordergründig an den schreienden Widersprüchen der Außenwelt. Er wurzelt vielmehr im unerlösten Gegensatz zum anderen Geschlecht, im Hin-und-Her-Gerissen-Sein zwischen Lust und Enttäuschung. Günther ist „Triebmensch“, dem Weibe verfallen, den lockenden Oberflächen und Öffnungen, der schimmernden, atmenden Epidermis, die er wie kaum ein zweiter auf narbigen Aquarellpapieren festhält – wider die Vergänglichkeit. Anders als Dix, für den der Tod zur Dialektik des Daseins gehört, beharrt Günther auf der positiven Seite des Widerspruchs, dem Lebenstrieb, wenn auch keineswegs ohne Zweifel, ohne Verletzungen und Doppelbödigkeiten. Sein Wille (seine Sehnsucht) zum Schönen, Guten, Wahren findet in der Darstellung des weiblichen Körpers eine ganze Welt – und zum großen Thema, zu einer eigenen Haltung. So konnte Kurt Günther neben seinen Zeitgenossen und zwischen Verismus und Neoklassizismus in der deutschen Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen originären Stil ausprägen.

In gutsituierten Verhältnissen aufgewachsen (die Druckerei des Vaters gehörte zu den renommiertesten lithografischen Anstalten in Gera), studierte Günther ab 1910 an der Akademie für Graphische Künste in Leipzig, besuchte kurzzeitig die Dresdener Kunstgewerbeschule und ab 1914 die Kunstakademie in Dresden. Nach dem ersten Weltkrieg und einem Sanatoriumsaufenthalt im schweizerischen Davos kehrte er an die Dresdener Kunstakademie zurück, wurde Meisterschüler von Otto Gussmann und gehörte zum Kern der Dresdener Dada-Gruppe. Nach Aufenthalten in Prag und Bad Reichenhall kam Günther 1924 in die Heimatstadt zurück und avancierte binnen kürzester Zeit zum Star der ansässigen Künstlerszene. Drei Jahre später übernahm er den Vorsitz des agilen „Künstlerbundes Ostthüringen“ mit Sitz in Gera. (Ulrike Lorenz und Holger Peter Saupe in: Streifzüge durch die Kunstsammlung Gera, 2000)